Hinuntersteigen in den „inneren Stall“

Ansprache an Weihnachten 2020 (Corona)

Hinuntersteigen in den „inneren Stall“ (Lk 2, 15 – 20)

Es ist Weihnachten, und wir feiern die Geburt Christi. Und was steht im Mittelpunkt? Eine Futterkrippe für Tiere in einem Stall. Möglicherweise war es der Stall in einer Karawanserei, wie man sie heute noch im Orient findet: eine Unterkunft für Händler und andere Reisende, meist mit Reit- und Packtieren unterwegs. Wenn in der Herberge kein Platz mehr ist, was bleibt da Maria und Josef anderes übrig als in den dazugehörenden Stall zu gehen? Da war es wenigstens warm bei den Tieren. Und so kommt Jesus in einem Stall zur Welt, sozusagen im ‚letzten Loch‘, was unseren Maßstab für menschliche Behausungen gilt. Schauen wir da einmal genau hin. Denn der Stall von Bethlehem hat eine symbolische Bedeutung: Wir können ihn meditieren und uns selbst darin wiederfinden. Der Psychologe Carl Gustav Jung hat einmal gesagt: Wir sollten es wagen, „in unseren eigenen Stall hinabzusteigen“. Das könne ein Weg zur Selbsterkenntnis werden. Versuchen wir es also jetzt einmal.

Was sehe ich, wenn ich in meinen „inneren Stall“, also in mein Innenleben hineinschaue? Erst einmal wahrscheinlich ein riesiges Durcheinander – so ein Stall ist ja kein sorgfältig aufgeräumter Ort, und schmutzig ist er wohl auch. Und so finde ich in mir oft ein Tohuwabohu an Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Gefühlen, Wünschen und Phantasien. Eigentlich ist diese „innere Welt“ meiner Gedanken erstaunlich vielfältig. Aber es gibt dort eben auch vieles Ungeordnetes, Widersprüchliches, Ärger, böse Gedanken, Vorurteile, belastende Erinnerungen. Vielleicht hat es gerade jetzt viel Ärger gegeben in der Familie – oder ich entdecke, wieviel Unfriede in mir ist, mit wem ich in Streit lebe. Das ist der Mist in meinem Stall, der (mir) stinkt. Wäre es nicht, vielleicht gerade jetzt an Weihnachten einmal aufzuräumen und sauber zu machen, zum Beispiel durch ein Zeichen von Versöhnung?

Und noch etwas: welche Tiere gibt es in meinem „inneren Stall“, in welchen könnte ich mich am besten wiederfinden? Der geduldige Ochs und der genügsame Esel stehen traditionell bei der Krippe, auch Schafe, die am liebsten in einer Herde sind, gibt es – aber sind diese Spiegel meiner Eigenarten? Oder würde ich lieber ein Adler sein, der weit über allem schwebt und zu allem Distanz hält? Oder eher wie ein Murmeltier, das viel kuscheln will und Nähe sucht? Oder wie ein Bär, ein Einzelgänger, der brummig wird, wenn ihm einer zu nahe auf den Pelz rückt? Oder wie ein Steinbock, der keiner Konfrontation aus dem Weg geht? Ich könnte mir auch überlegen, welches wohl mein ‚Sehnsuchts-Tier‘ sein könnte – wie ich also gerne wäre oder werden möchte. Übrigens gehört es bei Indianervölkern zum Erwachsenwerden dazu, dass ein Mensch sein „Totem-Tier“ suchte, also das, was er am meisten verehren wollte. Das war dann der Spiegel seines eigenen Wesens und Begleiter auf seinem Lebensweg – da steckt wohl viel Weisheit darin.

Und jetzt schauen wir noch tiefer: Was ist in der Mitte des Stalles? Eine Futterstelle – darin ein Kind. Vielleicht ist das ein schönes Bild für mein innerstes Wesen, meinen inneren Punkt, wo ich so sein darf, wie ich bin, fast wie ein Kind. Also suchen wir doch in der Weihnachtszeit für eine Weile die Stille und schauen tief in uns hinein, verweilen wir ein wenig bei uns selbst. Hier ist meine innerste Mitte, hier treffe ich meine Entscheidungen, hier ist auch die Quelle meiner Freiheit – zumindest, wenn ich bewusst entscheide und mich nicht treiben lasse. Und dann sagen wir doch bitte ‚ja‘ zu uns selbst! Nehmen wir uns selber an wie ein kleines Kind: freundlich, liebevoll, zärtlich. Vielleicht finden wir dann die Ruhe und den Frieden in unserer Mitte, in unserem ureigensten Stall – vielleicht sogar ein wenig seelische Heilung.

Heute, an Weihnachten, ist dieses Kind im Stall noch mehr als ein Bild für unser inneres Selbst. Jesus, der im Stall geboren wird, will auch mitten in meinem inneren Stall geboren werden, wenn er auch noch so unaufgeräumt und chaotisch ist, vielleicht auch voller seltsamer Tiere. Bewusst steigt er bis da hinunter. Der Dichter Angelus Silesius hat einmal gesagt: „Wäre Jesus tausendmal geboren und nicht in dir – du wärest verloren!“ Dass Jesus in uns selbst geboren werden möchte, ist wohl das größte Geheimnis und das schönste Geschenk von Weihnachten – Weihnachten will in mir geschehen! Gesegnete Weihnacht! Amen.