Das letzte Wort haben?
Ansprache am Stephanitag 2020
Menschen, die grundsätzlich das letzte Wort behalten wollen, können recht anstrengend sein. Sie geben uns das Gefühl, selber nichtssagend zu sein, ihnen nicht beikommen zu können. Ist dagegen ein letztes Wort tatsächlich das letzte einer Lebenszeit, bekommt es eine ganz andere, eine tragende Bedeutung. Stephanus, der nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte für seine Zeitgenossen ein anstrengender Gesprächspartner war, setzt mit seinen letzten Worten einen Paukenschlag: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Der Verfasser setzt ihn damit in eine Linie mit Jesus, der im Lukasevangelium in seiner Sterbestunde auf vergleichbare Weise für seine Gegner betet. So verbindet das Fest des Heiligen Stephanus einen Anfang mit einem Ende: Wir feiern an Weihnachten einen Anfang: Die Geburt Jesu, der nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums das menschgewordene Wort Gottes ist – und heute treffen wir auf das Zeugnis eines Mannes, der diesem Wort Gottes bis zum letzten Atemzug gefolgt ist.
Als Christen stehen wir ebenso in dieser Spanne zwischen dem Wort Gottes, das immer wieder neu in unser Leben hineinspricht, und dem Anspruch, ihm auch Gehör zu verschaffen. Vermag das Wort Gottes auch uns wie Stephanus bis zum letzten Atemzug zu tragen?
Auf seine ganz eigene Weise wirkt die Argumentation des Stephanus „unwiderstehlich“: Die Leute, die mit ihm streiten, vermögen der Weisheit und dem Geist, mit dem er spricht, nicht zu widerstehen. Soll das Wort Gottes auch in unserer Zeit im besten Sinne des Wortes „unwiderstehlich“ sein, braucht es Klarheit, Schlüssigkeit und Treue zu diesem Wort. Das ist nicht zu verwechseln mit unnachgiebiger Sturheit. Offenbar lag ja auch in der Rede des Stephanus etwas, das nicht leichthin als Verwirrtheit eines religiösen Spinners abgetan werden konnte.
Das Wort Gottes darf auch in heutiger Zeit stören und muss es sogar. Eine Standhaftigkeit, wie Jesus sie im Evangelium fordert, steht auch uns gut zu Gesicht. Aber auch diese Standhaftigkeit braucht die Rückbindung an die Wirklichkeit. Sich in den elfenbeinernen Turm einer weltfremden Religiosität zurückzuziehen, dient dem Wort Gottes nicht. Wo ihm heute Gehör verschafft werden soll, muss es in der Auseinandersetzung mit Meinungen und Strömungen dieser Zeit geschehen und nicht ausschließlich in der Form der Abgrenzung zu ihnen. Was haben wir beispielsweise als Christen aus unserem Glauben heraus zum Schutz des Lebens zu sagen? Was zur Würde des Menschen bis zu seinem Lebensende? Zur Bewahrung der Schöpfung? Themen zu setzen und aus dem Glauben zu beleuchten glückt nicht, indem ich dem Anderen einfach Bibelzitate um die Ohren schlage. Aber wo es uns gelingt, die tiefsten Menschheitsthemen aus den Erfahrungen der biblischen Texte herauszuschälen, müsste eigentlich unser Gegenüber versteht, wie sehr Gottes Wort diese tiefen Erfahrungen anspricht. Denn wir sind keine religiösen Spinner – wir haben eine Botschaft, die den Kern des Menschseins berührt!
Zugegeben, die Vielfalt der Meinungen und Anschauungen ist mittlerweile so groß, dass es oft anspruchsvoll ist, überhaupt eine gemeinsame Basis zu finden, der Austausch und Gespräch dann ermöglicht. Eine Grundvoraussetzung dafür zeigt uns jedoch das Beispiel des Stephanus: Aus den wenigen Zeilen, die die Apostelgeschichte über ihn berichtet, lässt sich erahnen, dass er sich selber mit dem Wort Gottes auseinandergesetzt hat – und manches mag ihn vielleicht auch gestört haben. Aber Stephanus lebt das Wort Gottes und lässt sich von ihm anregen. Und uns selber? Es darf uns selber auch herausfordern, sogar stören. Wo stolpere ich über Formulierungen? Wo fühle ich mich getragen? Wo ertappt, weil ein Vers der Heiligen Schrift einen wunden Punkt bei mir trifft?
Wer dem Wort Gottes bis zum letzten Atemzug folgen will, wird nicht drum herumkommen, sein eigenes Leben immer wieder von ihm auch in Frage stellen zu lassen. Bin ich noch auf der richtigen Spur? Oder habe ich mich bequem in meinen Anschauungen eingerichtet und mag im Grunde darin gar nicht mehr gestört werden? Wo es mich aber anregen darf, deckt seine Vielfalt nach und nach die verschiedenen Seiten meines Lebens auf. Vielleicht vermag ich so, irgendwann den Himmel auch für mich offen zu sehen. Amen.