Dumme Schafe?

Gedanken zum 4. Sonntag der Osterzeit (Joh 10,1-10)

Der heutige Text war früher ein beliebtes Evangelium für die Einführung eines neu­en Pfarrers. Aber dann bekam der Text schnell einen falschen Akzent: Der Pfarrer wird zum Hirten, der weiß, wo es langgeht. Die dummen Schafe haben zu folgen. So sind die Laien in der Kirche ja auch oft behandelt worden. Zum Teil geschieht das noch heute. „Gehorsam gegenüber den kirchlichen Obrig­keiten« hieß es im alten Katechismus unter dem 4. Gebot. Nein! Jesus ist der gute Hirt, nicht der Pfarrer. Der gehört zu den Schafen, die sich von Jesus führen lassen sollen.

Der gute Hirte hat ein Ziel: Er will die Schafe auf gute Weide führen, damit sie das Leben in Fülle finden. Wieder droht eine religiöse Verkürzung dieses Wortes: „Leben in Fülle“ meint nicht nur das Leben mit Gott, das Leben aus seiner Gnade. Es meint das Leben in all seinen Bezügen. Leben in Fülle, das heißt: gelungenes Leben, Gesundheit, Nahrung, Zukunftsmöglichkeiten, Würde, Recht, Sexualität und zwar schon heute; das heißt Freude und Gemeinschaft mit anderen, Entfaltung der eigenen Fähigkeiten, und mitten darin, nicht daneben: Leben mit Gott aus der Kraft seiner Liebe.

Nach einem solchen Leben sehnen sich alle Menschen. Vielen wird es vor­enthalten durch strukturelle Gewalt in Wirtschaft und Politik, die Menschen zu Hunger und Unterdrückung verurteilt, oder durch die unmittelbare Gewalt von Militär, Polizei und Attentaten. Anderen wird das Leben in Fülle verheißen durch die vielen Werbeangebote und Glücksspiele: Wer wird Millionär? – Big Brother – Traumhaus – Traumurlaub – Mode und so fort. Die Werbung be­dient sich religiöser Symbole, um an die Tiefenschichten des Menschen he­ranzukommen. So wird Glück, „Leben in Fülle« vorgespiegelt. Aber die Ver­sprechungen können nicht gehalten werden.

Ich möchte aus vielen Aspekten, die sich hier auftun, nur einen herausgreifen: Le­ben in Fülle heißt – Leben ohne Angst. Die Angst – nicht erst in Zeiten von Corona – scheint mir zu einem Kennzeichen unserer Zeit geworden zu sein. Wir sind nicht mehr geborgen in selbstverständlichen Ordnungen. Wir müssen alles neu suchen und gewinnen. Viele sind bedroht von Armut und Hunger, von Naturkatastro­phen und Krieg. Es gibt so viele Gründe für Angst, die uns umtreibt … Ich kann diese Angst in mir zu übertönen versuchen. Das kann zur Sucht führen, aber nicht nur zur Sucht nach Alkohol und Tabletten, sondern auch zur Herrschsucht über andere, damit ich nicht mehr infrage gestellt werden kann. Viel Aggressivität und Gewalt rührt aus dieser Angst, auch die rechte Gewalt in unserem Volk, die aggressive Ablehnung der Fremden durch junge Menschen, die erleben, dass ihnen der Weg zum Leben verstellt ist und die dann Schuldige suchen.

Die Verheißung Gottes schenkt uns aber die Möglichkeiten, aufzuste­hen und frei und offen zu leben, die Ängste und ihre Gründe anzuschauen und daran zu arbeiten. Wenn die Kirche den Dienst Jesu am Leben fortsetzen will, dann muss das in seinem Geist geschehen. Und ein solcher Dienst am Leben in Fülle verbietet auf jeden Fall alle Erziehung durch Angst. Wie könnte eine Kirche glaubwürdig sein, in dieser Welt den Bann der Ängste zu brechen und zu einem mutigen Leben einzuladen, wenn sie selbst Angst erzeugt und damit Türen zum Leben schließt statt sie zu öff­nen!

Der heutige Tag ist der „Tag der geistlichen Berufe“. Vom heutigen Evangeli­um her wird deutlich, was „geistlicher Beruf“ eigentlich meint: Er ist dazu da, dass Menschen das Leben in Fülle finden. Wir alle sind eingeladen, diesen „geistlichen Beruf“ in uns zu entdecken. Wir alle sind eingeladen, dem anderen zum Leben zu dienen, inmitten der Ängste bestehen zu können, sich nicht Kopf und Herz von den vielfältigen An­geboten vernebeln zu lassen, sondern aufrecht zu leben mit wachen Sinnen. Solche Menschen brauchen wir in unserer Zeit! Solche Gemeinden brauchen wir in unserer Zeit, wo Menschen aufgehoben und begleitet werden in ihren Ängsten, wo ihnen Vertrauen zum Leben geschenkt und ermöglicht wird. Das Kriterium für eine österliche Gemeinde und alle geistlichen Berufe ist der Dienst am Leben in Fülle, schon hier und jetzt, auch inmitten aller Be­drohungen und Ängste. Und wer Gott und seine Verheißungen so versteht, ist alles andere als ein ‚dummes‘ Schaf…