Thomas – gläubiger Atheist?
Gedanken zum 2. Sonntag im Jahreskreis (Joh 20,19-31)
Kennen Sie einen Atheisten? Also jemanden, der nicht an Gott glaubt? Nun, wahrscheinlich kennen Sie keinen oder nur sehr wenige – ich selber auch. Und mit echten Atheisten habe ich auch keine Probleme – denn ein Atheist steht einem gläubigen Christen viel näher als man denkt. Schließlich ist auch ein Atheist ein gläubiger Mensch. Nur seine Glaubensaussage unterscheidet ihn von einem Christen, nicht die gläubige Haltung an sich. Ein Atheist hat sich für den Glauben entschieden, dass es keinen Gott gibt. Er glaubt das. Beweisen kann er es nicht. Ein solcher ‚Glaube‘ muss auch von ihm immer wieder mühsam errungen werden.
Denn ich bin mir sicher: Es gibt im Leben von Atheisten Momente, wo die Zweifel an der eigenen Überzeugung stark werden, wo der eigene Glaube, dass es Gott eben nicht gibt, regelrecht erschüttert werden kann. Zum Beispiel die Geburt des eigenen Kindes. Natürlich weiß ein Atheist, wie so ein Kind entsteht, kann alle biologischen Prozesse von der Verschmelzung von Eizelle und Samen über Zellteilung bis hin zum Geburtsprozess erklären und verstehen. Und doch: Wenn dann dieses kleine Wesen geboren wird, so verletzlich, so schwach, so wunderbar – dann kann ein atheistischer Glaube schwer ins Wanken kommen: Kann das wirklich alles nur Zufall sein? Ein solches Wunder, ein solch wunderbares Menschenkind nur Frucht einer absichtslosen Evolution?
Es ist derselbe Zweifel, der einen gläubigen Christen beim Tod eines geliebten Menschen befallen kann. Da hat jemand sein Leben lang an Gott geglaubt, ist regelmäßig in die Kirche gegangen, hat die Sakramente empfangen – und dann stirbt plötzlich der geliebte Ehepartner. Vielleicht ist es sogar ein besonders qualvolles Sterben, das der Partner mit ansehen, mit erleiden muss. Dann ist da nur noch Leere. Und ein riesiger Schmerz. Wo ist der geliebte Mensch? Warum tut das so weh? In einem solchen Moment kann auch ein überzeugter Christ von Zweifeln übermannt werden: Wenn es wirklich stimmt, was ich da seit meiner Kindheit glaube, dass es einen Gott gibt, der uns nahe ist, der uns liebt, der unser Leben will – warum tut das so unendlich weh? Warum musste meine Frau, warum musste mein Mann so leiden? Warum bin ich jetzt noch da, sie aber nicht mehr?
Und in einem solchen Moment nutzt es gar nichts, wenn ein Geistlicher von seiner Glaubenserfahrung und in gewählten Worten von seinen Überzeugungen spricht. Er fühlt doch nicht diesen konkreten Schmerz. Er weiß doch nicht, was in genau dieser Person vorgeht, der die geliebte Partnerin, den vertrauten Partner nach vielen Jahren loslassen muss, womöglich auf Nimmerwiedersehen.
Ich bin überzeugt, dass der Apostel Thomas sich so ähnlich gefühlt hat. Er war ein Mensch, der Jesus wirklich liebte, durch und durch liebte. Der deshalb bis ins Tiefste erschüttert wurde von der Hinrichtung Jesu, von seinem Leiden am Kreuz, von seinem Tod. Noch hat er kaum richtig begriffen, was da auf Golgotha geschehen ist, da kommen schon seine Freunde daher und behaupten, sie hätten Jesus gesehen. Er sei von den Toten auferstanden, er lebe. Wahrhaftig: Es gibt nichts, was Thomas mehr ersehnen würde, als Jesus wieder lebendig an seiner Seite zu wissen. Aber so einfach lässt er sich seine Trauer nicht ausreden. So einfach stimmt er nicht ein in das Glaubenslied seiner Gefährten. Nur wenn ich Jesus berühren kann, wenn ich ihn da berühren kann, wo es besonders wehtat, an den Wundmalen, die von seinem Leiden erzählen, nur dann kann ich glauben, dass er wirklich lebt, sagt er. Und Jesus lässt sich darauf ein und spricht ihn liebevoll an: Komm! Hier bin ich. Berühre mich. Berühre die Wunden! Und Thomas wird geheilt. Er glaubt, mit Leib und Seele glaubt er und stammelt: „Mein Herr und mein Gott.“
Wenn Sie staunen über das Wunder des Lebens und seine Schönheit oder wenn Sie bis ins Tiefste erschüttert werden vom Leiden und Sterben geliebter Menschen oder von Ihren eigenen Qualen, dann lassen auch Sie sich nicht von anderen Leuten eine fromme Glaubensaussage aufschwatzen. Wagen Sie es, zu zweifeln. Aber gehen Sie als Christ mit Ihrem Zweifel zu Jesus: „Du, Herr, auch wenn meine Augen Dich nicht sehen, Du hast doch verheißen, immer bei uns zu sein. Sieh meinen Schmerz. Sieh mein Leiden, sieh meine Qual. Berühre meine Wunden. Und lass mich Deine Wunden spüren. Dann werde ich geheilt. Dann werde ich glauben: Mein Herr und mein Gott!“